Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte

QFRG 77 - Politische Kultur in der Frühen Neuzeit. Kirchenräume in Hildesheimer Stadt- und Landgemeinden 1550-1750

R. Dürr, Gütersloh 2006, € 49,95

Seit einigen Jahren ist die Diskussion über das Verhältnis von Politik und Religion in der Frühen Neuzeit wieder lebhafter geworden, weil sich alte Zuschreibungsmuster über bestimmte Konfessionsunterschiede in dieser Frage (verkürzt gesagt: obrigkeitshöriges Luthertum; partizipationsoffener Calvinismus; Politik und Kirche eher trennender Katholizismus) als zu grobschlächtig, wenn nicht falsch erwiesen haben. In diesen neueren Forschungen wird jedoch zumeist das Verhältnis von "Hochtheologie" zur politischen Theorie der Zeit diskutiert, werden theologische und juristische Schriften gelesen, Handlungen von Geistlichkeit und Obrigkeit analysiert. Gemeindeaktionen oder Initiativen einzelner Gläubigen dagegen werden durch diese Perspektive allenfalls im Zusammenhang von Unruhen wahrgenommen, die zwar im frühneuzeitlichen Europa häufiger anzutreffen waren, als man gemeinhin annehmen würde, die jedoch grundsätzlich mit dem Problem der Illegitimität zu kämpfen hatten und insofern nicht einfach als Signum der politischen Kultur dieser Zeit betrachtet werden können. Die "politische Kultur" Hildesheimer Stadt- wie Landgemeinden in der Zeit von 1550 bis 1750 - verstanden als die Frage nach den Partizipationschancen unterschiedlicher Gruppen in dieser bikonfessionellen Region - steht nun im Mittelpunkt meiner Habilitationsschrift. Dabei werden Handlungsmuster und -optionen von Geistlichkeit, Obrigkeit und Gemeinden im Kirchenraum als einem eminent wichtigen Raum lokalpolitischer Öffentlichkeit analysiert. Die Arbeit gliedert sich in drei Teile: in einem ersten Teil werden der lutherische und katholische Kirchenraum selbst, werden deren Ausgestaltung und theologische Konzeption (Gemeindekirche versus "Priesterkirche"), unter der Fragestellung nach den zugrunde liegenden Autoritätskonzeptionen analysiert. Der zweite Teil betrifft die Sozialbiographien und das Selbstverständnis lutherischer und katholischer Seelsorger in Stadt und Kleinem Stift Hildesheim. Herausgearbeitet wird hier, in welcher Weise die Herrschaftsansprüche von Geistlichkeit und Obrigkeit im Kirchenraum auf einem bipolaren (Hirte-Herde-Metapher) oder dreigliederigen (Dreiständelehre) Kompetenzenmodell basiert. Im dritten Teil schließlich werden unter der Fragestellung nach dem Zusammenspiel von Geistlichkeit, Obrigkeit und den Gemeinden zwei grundlegende und grundsätzlich unterschiedliche Handlungsfelder im lutherischen Kirchenraum analysiert: zunächst das Procedere bei den Pfarrerwahlen in Stadt- wie Landgemeinden; anschließend das katholische wie lutherische Beichtverständnis des 16. bis 18. Jahrhunderts sowie die Beichtpraxis vor allem lutherischer Gemeinden in Hildesheim selbst. Beide Handlungsfelder sind für die Jahrhunderte nach der eigentlichen Reformationszeit so gut wie unerforscht. Während eine weitgehende Beteiligung von Gemeinden in Bezug auf die Pfarrerwahlen nach dem Prinzip des "Priestertums aller Gläubigen" wahrscheinlich erscheint (wenn auch in der Literatur zumeist negiert), gelten Beichte und Absolution als geradezu paradigmatische Handlungsfelder des Beichtvaters, und sie waren dies insbesondere auch nach dem Selbstverständnis der Geistlichen selbst. Die Analyse beider Handlungsfelder im Raum Hildesheim zeigt jedoch, dass über die gesamte Frühe Neuzeit hinweg sich alle drei "Stände" - das heißt Geistlichkeit, Obrigkeit und Gemeinden - als Handlende und Verantwortliche im Kirchenraum begriffen und dieses Recht wie diese Pflicht in wechselnden Koalitionen mit - je nach politischer Kräfteverteilung - unterschiedlichem Erfolg verteidigten. Alle Beteiligten übernahmen Bestandteile der existierenden Autoritätsmodelle (Gemeindekirche, Hirte-Herde-Modell, Dreiständelehre), verabsolutierten einige Elemente, übersahen, was ihnen daran nicht passte und kombinierten diese in eigenwilliger Weise. Dass im Luthertum alle drei Konzepte nebeneinander bestanden, erleichterte unterschiedliche Legitimationsmuster bei dem Versuch einer Sicherung und Ausweitung der jeweils eigenen Ansprüche im Kirchenraum. Die politische Dimension dieser Handlungen ergibt sich nicht zuletzt aus den unzähligen Konflikten, die den Rat der Stadt, den Kurfürsten, die benachbarten Territorien, das Reichskammergericht und nicht zuletzt auch den Kaiser immer wieder auf den Plan riefen.